Mütterchen Russland

Reisetagebuch Russland   26. August 2018 - Tag: 182 km - Gesamt: 5550 km - Eintrag: Michaela & Udo

Von Uglich nach Jaroslavl (Goldener Ring, Russland)

Uglich: Tserkov' Tsarevicha Dimitriya Na Krovi - die Demetrios-Kirche oder Blutskirche aus dem Jahre 1692
Uglich: Tserkov' Tsarevicha Dimitriya Na Krovi - die Demetrios-Kirche oder Blutskirche aus dem Jahre 1692

Uglich (Uglitsch) ist nach den vielen eintönigen Straßenkilometern wie ein Kulturbad. Die immerhin 35.000 Einwohner zählende Stadt am Oberlauf der Wolga könnte nicht besser liegen. Durch ein Schleusenwerk vom Uglicher Stausee getrennt, empfängt die Stadt ihre Besucher mit malerischen Kathedralen und Klöstern. Besonders die Frühaufsteher an Bord eines Kreuzfahrtschiffes können bestimmt einen fantastischen Blick auf die Uferskyline genießen, wenn das Schiff von Rybinsk her kommend das Knie überwunden hat, welches die abknickende Wolga kurz vor der Stadt noch morgenmüde beugt. Vergoldete und buntfarbene Kuppel glänzen im Morgenlicht und auf der Wolgapromenade ist man um halb acht noch völlig allein unterwegs. Nur der Straßenfeger räumt am Anlegeplatz der Kreuzfahrtschiffe die leeren Flaschen und Plastikbecher vom Vorabend weg. Keine Straßenhändler, keine Kreuzfahrer, kein Autoverkehr, keine Musikbeschallung der Alleinunterhalter in den Lokalen. Pssst - einfach nur die Stille genießen und die warmen Strahlen der Morgensonne genießen. 

Am Eingang zur Uferpromenade hat ein altes Mütterchen begonnen, einen verschlissenen Holztisch mit handgefertigten Püppchen, Glöckchen und Deckchen aufzubauen. Davor ein Schild in Englisch: „Money for eye surgeon. Please help!“ Ich wünsche der Frau ein „Dobroye utro“ (Guten Morgen) und deute auf das Schild. Sie nimmt ihre riesige Sonnenbrille ab und zeigt mir ihre zugequollenen, entzündeten Augen. Ich kann nicht anders, muss ihr kurz über den Arm streichen, sie drücken. Als ich ihr für das hübsche Püppchen einen 500-Rubel-Schein in die Hand drücke, das Rückgeld ablehne und stattdessen auf ihre Augen deute, bekreuzigt und verneigt sie sich mehrfach. Матушка Россия - Mütterchen Russland. Es gibt Momente im Leben, da möchte man einfach nur losheulen…

Uglich: Ankunft eines Wolga-Kreuzfahrtschiffes am Morgen
Uglich: Ankunft eines Wolga-Kreuzfahrtschiffes am Morgen
Mütterchen Russland - sie sammelt Geld für ihre Augen-OP
Mütterchen Russland - sie sammelt Geld für ihre Augen-OP

Das Frühstück in der Wohlfühloase Hotel Voznesenskaya gehört zu den besseren auf dieser Reise, zumal man an der Bar gegen einen bescheidenen Aufpreis von 100 Rubeln (1,30 Euro) einen echten Cappuccino ordern kann. Gewonnen! Wir möchten nach dem Packen nicht gleich los, sondern machen auf einer Stadtrunde noch schöne Entdeckungen: den Uglicher Kreml mit der Verklärungskathedrale gleich daneben. Den großzügigen Park des Sieges mit Lenin-Denkmal und ewigem Feuer für die Gefallenen des Großen Vaterländischen Krieges. Das Museum der Geschichte des russischen Vodka und gleich daneben ein weiteres „witziges“ Museum für Gefängniskunst.

 

Schon wieder halb elf, jetzt aber raus auf die Landstraße. Richtung Myshkin rappelts wieder im Fahrwerk und wir erreichen den kleinen Ort auf einer Anhöhe am Wolga-Ufer gut geschüttelt. Myshkin (auch Myschkin) bedeutet soviel wie „Mausstadt“ und dahinter verbirgt sich die nette Geschichte eines Fürsten, der nach anstrengender Jagd eine Rast einlegte, sanft entschlummerte und von einer Schlange als Zweitfrühstück auserkoren wurde. Gerade noch rechtzeitig weckte ihn ein kleines Mäuschen, das quer über sein Gesicht trippelte, vor dem frühzeitigen Tod. Der Fürst ließ aus Dankbarkeit eine Kapelle erbauen und drum herum entstand die Siedlung Myshkin. Der Ort lebt von Museen, Galerien und Kleinkunst, wirkt ein wenig verlebt und kommerzialisiert, muss er als Anleger für die Wolga-Kreuzfahrtschiffe doch einen erheblichen und vor allem flüchtigen Durchlauftourismus verkraften. Da dürften an manchen Tagen fast genau so viele Besucher wie Einheimische (knapp 6000 Einwohner) im Ort umherspazieren. Nein, ich fang nicht schon wieder damit an! Aber es ist nun mal so, wenn der Gaffer-Tourismus unterwegs ist. Es kommt für die Menschen selten etwas Gutes dabei heraus. Wir betrachten das Treiben noch vom Turm der Uspenski-Kathedrale, weil Distanzen ja oft helfen, die Dinge gelassen zu betrachten…

 

In Myshkin endet die Straße und wer nach Rybinsk weiter möchte, muss die Fähre nehmen. Dort warten schon Xenia und Roma auf die Überfahrt. Wir haben den beiden BMW-Fahrern bei der Ortserkundung mehrfach zugewunken und da sie ein wenig Englisch sprechen, tauschen wir unsere Reiseerfahrungen aus. Als Zweimetermann betrachtet Roma unsere zarten CRFs wie Spielzeugmotorräder und kann es kaum glauben, dass man mit „so etwas“ von daheim aus über 5000 Kilometer zurücklegen kann. Ich dagegen kann mir kaum vorstellen, seine kofferbepackte GS auf der Rampe der Fähre zu wenden, was der hünenhafte Roma mit einem Handstreich erledigt. Hintergrund: Die Flussfähren an der Wolga werden oft dermaßen eng beladen, dass die letzten Fahrzeuge rückwärts die Rampe runtermüssen, was immer zu sehr unterhaltsamen Fahrschulszenen führt. Nochmal drücken, gute Reise, take care und ein fröhliches Winken. Sie tun unendlich gut, solche Begegnungen…

Zavtrak - Frühstück auf Russisch
Zavtrak - Frühstück auf Russisch
Museumsstadt Uglich - hier für traditionelle alte Kleider
Museumsstadt Uglich - hier für traditionelle alte Kleider

Ein paar Kilometer weiter noch so eine Begegnung, die im Kopf hängenbleibt, wenn auch aus einem völlig anderen Grunde. Wir haben an einem einfachen Straßencafé über Land Halt gemacht, um Wasser zu tanken und etwas auszuspannen. Vor der Holzhütte steht schon ein alter Jetta mit russischem Kennzeichen. Ein junge Familie mit Kind, und da wir kleine Kinder sehr mögen, amüsieren wir uns prächtig, wie durchsetzungsstark der 2-Jährige bereits ist, wenn er bei Mama auf dem Schoß sitzt und am Lenkrad dreht. Sie darf fahren, weil er schon einen im Kahn hat und in der Hütte soeben seinen Biervorrat aufgefüllt hat. Mit ein bisschen Englisch und Händen und Füßen kommen wir ins „Gespräch“ und erfahren, dass die drei an die Wolga zum Schwimmen fahren. Papa schwärmt von „Mütterchen Russland“ und seine Arme reichen kaum aus, um zu zeigen, wie breit die Wolga ist. Dann wechselt er das Thema und kommt auf Fußball zu sprechen und er kennt tatsächlich Bayern München und einige Bayern-Spieler. Ja, und Rußland so ja soooo groß - spätestens jetzt versagt die Spannweite seiner Arme - und Bayern ja nur soooo klein. Und nun reicht ihm der Daumennagel, um das größte deutsche Bundesland darzustellen. Völlig zu vernachlässigen! Wie kann es also sein, dass man in Bayern soooo guten Fußball spielt???

 

Weiter nach Rybinsk. Die Stadt ist verkehrsreich und um die Mittagszeit hektisch und überdreht. Wir ziehen nur mal kurz über die riesige Wolgabrücke, die auf gut 600 Metern den Fluss überspannt. Das Licht hat sich geändert, ist fast gleißend hell und dunstig, so dass auch die Kamera wenig Freude am Stadtbild hat. Ab nach Yaroslavl und da die Straßen plötzlich wieder einen intakten Belag haben, kommen wir auf den letzten 100 Kilometern gut voran. Schon weit draußen vor der 600.000 Einwohner-Stadt beginnen die anonymen Hochhaussiedlungen, in denen die meisten russischen Stadtbewohner ihr Zuhause haben. Unvorstellbar für Landeier wie uns, dort leben und arbeiten zu müssen. Wer sich ins Stadtzentrum Yaroslavls „vorarbeitet“, kann beim besten Willen nicht glauben, dass es sich um eine der schönsten Städte des Goldenen Rings handeln soll. Doch dann stoßen die Enduros auf einen wunderschönen Park, daneben der riesige Rote Platz mit der Prophet-Elija-Kirche und plötzlich gibt es Ruhe, Stimmung und sogar Beschaulichkeit. Nochmals unvorstellbar…!

 

 

Wir „logieren“ im Parade-Hotel direkt am Rande des Parks, werden von Pavel an der Rezeption superfreundlich und zuvorkommend empfangen, bekommen Tipps für eine Stadtbegehung zu Fuß und sitzen eine Stunde später in der stimmungsvoll illuminierten Kirova Ulitsa-Fußgängerzone Jaroslavls beim Abendessen. Besser hätte es heute nicht laufen können… --

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